Wir vom Sri Chinmoy Marathon Team sind überzeugt, dass Sport mehr ist als immer nur im Wettbewerb stehen und die anderen Mitstreiter auszustechen. Nein, er kann wirklich eine Schlüsselrolle spielen, wenn es um die eigene Selbstentdeckung geht und die wahre Bedeutung des Lebens zu finden. Das ist die Einstellung, welche der Gründer unserer Organisation und der spirituelle Lehrer Sri Chinmoy viele Jahre praktizierte. Wir freuen uns sehr, wenn wir bemerken, dass die Leute vielerorts diese Philosophie wertschätzen. Hier stellen wir einige Beispiele vor:
1. Der Aufstieg der Ultralangläufer („The Rise of Ultrarunners“)
Dean Karnazes nannte dieses Buch das ultimative Buch zum Ultralauf heute, und es schaffte sogar den Sprung auf manche Liste als „Sportbuch des Jahres 2019“. Der Autor Adharanand Finn schrieb einmal einen guten Artikel im „Guardian“ über den bevorstehenden 24h-Lauf in London. Als Ergebnis seiner Forschungen zum Buch kam er im folgenden Jahr sogar, um selber teilzunehmen.
„Der Lauf übt eine eigenartige Faszination auf mich aus. Ich mag die Art, wie er das Alltägliche mit dem Abenteuerlichen verbindet. Wie die Leute grenzwertige Dinge wagen, nicht etwa im Himalaya oder im Dschungel, sondern auf einer Laufstrecke in Tooting im Süden von London. Es macht deutlich, dass wir nicht in die fernsten Winkel der Erde reisen müssen, um Abenteuer, Erleuchtung oder Verrücktheit zu erleben, oder wonach wir auch suchen... all das existiert überall um uns herum, wenn wir nur die Augen öffnen.“ (Zitat aus dem Buch)
Seine Geschichte zu diesem Lauf nimmt ein ganzes Kapitel ein (Kapitel 11, falls es dich interessiert). Sie ist auch sehr bewegend, weil sie schildert, wie er zu dem Punkt kommt aufzugeben und hier aber eine völlig neue Erfahrungsebene betritt. Und sie liefert auch eine berührende Beschreibung vieler außergewöhnlicher Menschen, die mit ihm den Lauf bestritten, inklusive einige über 70-Jährige. Das Buch reflektiert vieler seiner Ultralauf-Erfahrungen und öffnet gleichzeitig ein Fenster in diese seltsame und wunderbare Welt des Ultralaufens.
Das Buch ist auf Amazon erhältlich.
2. Runner's tribe
Am 10. Januar 2020 erforscht Matt Fitzgerald (Autor von Büchern wie „The Endurance Diet“ und „80/20 Running“) in einem Artikel von „Runner´s Tribe“ die Philosophie des berühmten Marathon- Läufers Eliud Kipchoge.
Auszug
„Mit Kipchoge hat es nichts Besonderes auf sich, was das betrifft. Für viele Athleten ist der Ausdauersport eine spirituelle Erfahrung. Es ist sogar fast unmöglich für eine spirituell aufgeschlossene Person, Ausdauersport nicht auch spirituell zu erleben. Das ist es ja, was spirituelle Lehrer wie Sri Chinmoy selbst Nichtsportlern empfehlen. (= ein aus Indien stammender Meditationsmeister, der im 20. Jh. in den USA bedeutenden Einfluss auf die Läuferwelt nahm)
„Das innere und das äußere Laufen ergänzen einander,“ schrieb Sri Chinmoy. „Für das äußere Laufen brauchen wir Disziplin. Ohne Disziplin können nirgendwo im Leben erfolgreich sein. Wenn wir das äußere Laufen pflegen, werden wir an das innere Laufen erinnert. …“
Eliud Kipchoge ist hauptsächlich für zweierlei Dinge bekannt: Gewinnen und Rekorde brechen. Von den 12 Marathons, die er gelaufen ist, hat er 11 gewonnen (und ist Zweiter bei jenem geworden, den er nicht gewinnen konnte). 2017 unternahm er den ersten Versuch, die Marathondistanz in weniger als 2 Stunden zurückzulegen, wobei er die Laufwelt damit schockierte, dass nur noch 25 Sekunden fehlten. Zwei Jahre später probierte er es erneut und war erfolgreich mit 1:59:40 über die berühmten 42 km. Während dieses Ergebnis nicht als offizieller Marathon-Weltrekord gilt, hält Kipchoge dennoch einen: er gewann 2018 den Berlin-Marathon mit 2:01:39.
Eliud Kipchoge beim Berlin Marathon 2015, Foto von Denis Barthel
Man könnte nun annehmen, dass Kipchoge besonders auf Zeiten und Trophäen aus ist, aber das ist er nicht. „Ich glaube an eine Philosophie, die besagt, dass Gewinnen nicht wirklich wichtig ist,“ meinte er 2016 in einer Rede in der Oxford Union. „Erfolgreich zu sein, ist auch nicht wichtig.“ Was für Kipchoge also wichtig ist, ist die Selbstmeisterschaft, für die das Laufen von Marathons sein Mittel der Wahl ist. „Nur wenn du diszipliniert bist, bist du frei im Leben,“ sagte er bei derselben Gelegenheit. „Wenn du nicht diszipliniert bist, bist du ein Sklave deiner Launen. Du bist ein Sklave deiner Leidenschaften.“
Wenn Eliud Kipchoge über das Laufen spricht, nicht nur bei diesem Anlass, sondern im allgemeinen, dann hört er sich eher nach einem spirituellen Führer an als nach irgendeiner Sportskanone. „Es ist besser dich selbst zu besiegen als tausend Schlachten zu gewinnen.“ Eine Aussage, die dem Buddha zugeschrieben wird. Ersetze „Schlachten“ mit „Marathons“ und man hat ein weiteres Kipchoge-Zitat.
Mit Kipchoge hat es nichts Besonderes auf sich, was das betrifft. Für viele Athleten ist der Ausdauersport eine spirituelle Erfahrung. Es ist sogar fast unmöglich für eine spirituell aufgeschlossene Person, Ausdauersport nicht auch spirituell zu erleben. Das ist es ja, was spirituelle Lehrer wie Sri Chinmoy selbst Nichtsportlern empfehlen. (= ein aus Indien stammender Meditationsmeister, der im 20. Jh. in den USA bedeutenden Einfluss auf die Laufwelt nahm)
„Das innere und das äußere Laufen ergänzen einander,“ schrieb Sri Chinmoy. „Für das äußere Laufen brauchen wir Disziplin. Ohne Disziplin können nirgendwo im Leben erfolgreich sein. Wenn wir das äußere Laufen pflegen, werden wir an das innere Laufen erinnert. …“
Mit der richtigen Einstellung kann jede Aktivität – sei es Essen, Gärtnern und was auch immer – zur spirituellen Übung werden. Ausdauerlaufen ist in diesem Punkt jedoch etwas Besonderes, da ihm der spirituelle Aspekt quasi innewohnt. Selbst Läufer, die nicht aus diesem Grunde mit dem Langstreckenlaufen beginnen, gelangen am Ende dorthin. Warum ist das so?
Neuere wissenschaftliche Studien geben uns eine Antwort auf diese Frage. Es ist für jeden Sportler offensichtlich, dass die Erfahrung eines extremen Ausdauerlaufes physisch und psychisch herausfordernd ist. In der Vergangenheit glaubten Sportwissenschaftler, dass die Grenzen, an welche die Sportler kamen, rein körperlicher Natur waren und die psychischen Herausforderungen, die mit diesen Grenzerfahrungen verbunden waren, lediglich Begleiterscheinungen . Sie glaubten, dass messbare Faktoren wie die Zunahme der Milchsäure in den Muskeln und die entleerten Glykogenspeicher die Athleten daran hinderten, schneller und weiter zu laufen. Mittlerweile wissen wir, dass das nicht stimmt. Während physische Grenzen existieren, setzen sie die Performance einfach unter Druck, aber sie begrenzen sie nicht direkt. Die Grenzen, welche die Athleten beim Laufen erleben, sind psychologischer Natur.
Der Unterschied zwischen einem Sprint und dem Ausdauerlaufen ist der, dass der schnellste Weg, vom Start zum Ziel zu kommen, darin liegt, eben nicht so schnell zu sein, wie man könnte. Kein Mensch ist körperlich fähig, mit 100% seines Einsatzes länger als 45s durchzuhalten. Deshalb müssen Sportler bei Ausdauerveranstaltungen Maß halten, was bedeutet, sich selbst auf ein Tempo zurückzunehmen, das sie über die gesamte Strecke durchhalten können. Und Maß halten wird bewusst getan, in einer Verbindung von Denken und Gespür.
Konkret ist das Maßhalten eine Art vorausschauender Prozess, wo die Athleten fortwährend einschätzen, welchen Einsatz sie vom Start bis zum Ziel leisten können und diesen immerzu dem jeweiligen Moment anpassen. Diese Einschätzung beruht auf ihrer gefühlten Leistung (in dem Sinne, wie der Sportler seine Leistung in Relation zum Maximum setzt), auf bisherigen Lauf- Erfahrungen und dem bewussten Wissen um die verbleibende Distanz bzw. Zeit. Indem er sich auf diese Erkenntnisse und Wahrnehmungen verlässt, versucht der Athlet a) zu verhindern, dass er vor dem Ziel die Erschöpfungsgrenze erreicht und b) das Ziel zu erreichen, bevor die Erschöpfung einsetzt.
Es ist wichtig zu betonen, dass, wenn sich die Sportler verkalkulieren und die Erschöpfung erreichen, es selten an physischen Faktoren wie leeren Glykogenspeichern liegt. Es ist eher so, dass sie das höchste Maß an Leistung erreicht haben, welches sie tolerieren können. Sie mögen sich physisch außer Stande fühlen, weiterzumachen, aber so ist es nicht. Sorgsam durchgeführte Studien haben bewiesen, dass Sportler bei jeder Art von Langstreckenveranstaltungen noch körperliche Reserven haben, wenn sie an dem Punkt sind, dass sie aufgeben.
Die psychische Grenze der gefühlten Leistungstoleranz ist nicht weniger real als die physische, da sie den Sportler ja schützt; jedoch ist ihre Natur von anderer Art. Man stelle sich einige Gewichte vor, die nach zunehmenden Kilos in einer Reihe angeordnet sind. Die Aufgabe besteht darin, die Gewichte nacheinander hochzuheben, bis man zu einem kommt, wo das nicht mehr möglich ist. Wenn man dort angelangt ist, gibt es keinen Zweifel daran. Entweder ist man in der Lage, das folgende Gewicht zu heben oder man ist es nicht.
Im Gegensatz dazu sind sowohl die maximale psychische als auch die physische Belastungsgrenze veränderlich. Das wurde anhand einer Studie deutlich, die von australischen Forschern gemacht und in „Pediatric Exercise Science“ 2013 veröffentlicht wurde. Dreizehn Kinder im Alter von 9 bis 11 Jahren sollten versuchen, zu drei unterschiedlichen Zeiten die Strecke von 800m zu laufen. Da diese Distanz für die Kinder neu war, wurde vermutet, dass sie ihre Zeiten über die 3 Versuche verbessern würden, indem sie ihre Laufweise anpassen würden. In der Tat verbesserten sie sich auch, aber nicht wegen einer angepassten Laufweise. Ihr Zeiten wurden besser, einfach weil sie sich mehr verausgabten. Bei allen drei Versuchen starteten die Kinder zu schnell, wurden dann deutlich langsamer und beschleunigten gegen Ende wieder. Beim ersten Versuch liefen sie so schnell sie konnten und es strengte sie an. Beim zweiten Mal, wo sie schon etwas mehr Gespür für die Strecke hatten, forderten sie sich etwas mehr und liefen schneller. Und beim dritten Versuch wussten sie schon, dass die Strecke sie nicht umbringen würde und strengten sich also noch mehr an, um schneller zu sein.
Erfahrene und hoch motivierte Ausdauersportler sind in der Lage, verschiedene Grade von Anstrengung auszuhalten, die unbeschreiblich unangenehm sind. Aus diesem Grund, und auch weil die maximalen psychischen Belastungsgrenzen so verschwommen sind, befinden sich die Athleten gegen Ende der Rennen meist in einem speziellen Bewusstseinszustand. Im Grunde genommen findet ein Schlagabtausch zwischen zwei inneren Stimmen statt, welche ungleiche Aspekte des Selbsts repräsentieren. Eine Stimme, welche den instinktiven Wunsch verkörpert, jeglichem Unwohlsein zu entgehen – eine, die wir alle haben – bittet den Sportler aufzugeben oder zumindest langsamer zu werden. Die andere Stimme ist die, welche den Sportler motiviert hat, ein hohes Ziel zu erreichen, was aber nicht ohne Beschwerden möglich ist, und die ihn weiter vorantreibt.
Ambivalenz tritt im Alltag ständig auf, aber die innere Zerrissenheit, welche Athleten in den kritischen Momenten des Rennens erleben, ist einzigartig klar und intensiv.
Spiritualität hat unterschiedliche Bedeutung für unterschiedliche Menschen. Selbstmeisterschaft liegt jedoch allen spirituellen Wegen zu Grunde. Was auch immer es für einen bedeutet, ein spirituelles Leben zu führen, es heißt doch immer in Übereinstimmung mit den eigenen höchsten Werten zu leben. Dafür ist es nötig, die Fähigkeit zu entwickeln, die „niederen“ Impulse diesen Werten unterzuordnen. Kurz gesagt, braucht es dafür Selbstmeisterschaft.
Jahrhundertelang haben Menschen Werkzeuge wie Fasten oder Meditation benutzt, um spirituelles Wachstum durch Selbstmeisterschaft zu erlangen. Diese Werkzeuge dienen dazu, ein Art innere Zerrissenheit zu schüren, welche dem spirituellen Sucher die Gelegenheit gibt, an der Selbstmeisterschaft zu arbeiten. Traditionell wird dieser innere Kampf, der beim Fasten oder Meditieren auftritt, als Kampf zwischen Geist und Fleisch bezeichnet. Wissenschaftlich gesehen findet die Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Aspekten des Gehirns statt, die in bestimmten Gehirnarealen wurzeln. Das wichtigste Schlachtfeld liegt dabei in einem Hirnareal, welcher anteriorer cingulärer Cortex, ACC, genannt wird. Dieser ist dafür zuständig, Lösungen für Ambivalenzen zu finden. Studien haben gezeigt, dass der ACC sowohl bei Meditierenden als auch bei Ausdauersportlern besonders ausgeprägt ist.
Ausdauersportler und Meditierende schneiden sehr gut ab bei Tests, wo es um hemmende Kontrolle geht bzw. die Fähigkeit, Impulse durch bewusste Zurückhaltung zu überwinden (was auch vom ACC gesteuert wird). Hemmende Kontrolle ist nicht Selbstmeisterschaft selbst, aber ein Faktor, auf dem Selbstmeisterschaft beruht.
Ein wichtiger Unterschied zwischen Ausdauersport und den traditionellen Werkzeugen spiritueller Meisterschaft ist der, dass es beim Ausdauersport um Wettbewerb geht. Es liegt nahe zu vermuten, dass der Wettbewerbsgedanke im Gegensatz zu spiritueller Erfahrung steht, und er hat definitiv auch das Potenzial dazu. Für einige Athleten sind Rennen Ausdruck ihres Egos. Aber für andere sind Wettbewerbe eher das Umfeld, um Selbstmeisterschaft anzustreben. Es ist eine anerkannte Tatsache, das Sportler im Wettbewerb eher in der Lage sind, mehr aus sich herauszuholen als ohne ihn. Je mehr der Sportler geben kann, desto größere Meisterschaft erlangt er oder sie.
Das ist der Grund, warum ein spirituell empfindsamer Sportler wie Eliud Kipchoge, der nicht glaubt, dass Gewinnen wichtig ist, so sehr danach strebt zu gewinnen.
Ein anderer wichtiger Unterschied zwischen Ausdauersport und den traditionellen Werkzeugen spiritueller Meisterschaft bezieht sich auf die Rolle des materiellen Körpers. In manchen spirituellen Traditionen besteht die Tendenz, den Körper und seine Instinkte zu unterdrücken. Für mich persönlich ist Ausdauersport als spirituelle Bemühung ein Grund, unsere Einkörperung zu feiern und unsere Biologie und Instinkte in den Dienst eines höheren Zwecks zu stellen: in Einklang mit unseren höheren Werten zu leben. Ausdauersport ist sicherlich nicht für alle attraktiv. Als spirituell sensitive Person, die gern in diesem Körper lebt, bin ich allerdings glücklich, dass es Ausdauersport gibt!
Artikel von Rupantar Russo